Eine Replik auf die SPIEGEL Titelgeschichte 03/2025 und damit verbundene Social Media Beiträge
DER SPIEGEL hat sich in der aktuellen Ausgabe dem Thema ADHS gewidmet und ist dabei der Frage nachgegangen, ob hohe Fallzahlen mit verbesserter Diagnostik oder einem Social Media Hype zusammenhängen. Diese Frage haben sich in der Vergangenheit auch schon andere gestellt (z. B. ich in diesem Instagram-Beitrag).
Dennoch hat der Artikel unter denjenigen, die sich auf Instagram, YouTube oder in anderen sozialen Medien mit ADHS beschäftigen, Kritik hervorgerufen. Für mich Anlass genug, mir nach langer Zeit mal wieder einen SPIEGEL zu besorgen (6,30 EUR, ernsthaft??).
Unbestreitbar haben sich im Artikel kleine Fehler eingeschlichen, auf die via Instagram auch bereits Angelina Boerger (@kirmesimkopf) und Vanessa Ebert (@nessadhs) hingewiesen haben:
„Neurodivers, das sind Menschen wie Weippert, in deren Gehirn die Dinge anders laufen.“ (Bernard & Padtberg, S. 8)
Einzelne Menschen mit ADHS, ADS oder z. B. der Autismus-Spektrum-Störung bezeichnet man nicht als neurodivers, sondern als neurodivergent. Divers, ob mit der Vorsilbe Neuro- oder ohne, sind immer mehrere. Neurodivers sind bspw. alle menschlichen Gehirne zusammen, weil mehrere Arten des Denkens, Wahrnehmens und Interagierens versammelt sind.
„Eine psychische Störung bei Kindern, die…“ (ebd., S. 10)
Es handelt sich bei ADHS um eine neurologische Störung, nicht um eine psychische. Einfach ausgedrückt könnte man sagen, dass es sich bei der Neurologie eher um die Hardware handelt, bei der Psychologie eher um die Software. Aber da früher alles zusammen mal ein Fachgebiet ‚Nervenheilkunde‘ war: geschenkt.
In Verbindung mit den Begriffen ‚Hype‘ oder ‚Modediagnose‘ wird das Thema natürlich direkt ‚geframed‘ und ein bestimmtes Narrativ gesetzt. Das ist für diejenigen, denen ADHS eine Bürde ist und die beruflich oder privat keinen Fuß auf den Boden kriegen, schwer auszuhalten. Und wird in einigen Kommentaren deutlich kritisiert. Dennoch: Auch und gerade als Journalist:in muss man die Frage stellen dürfen: Wachsen die Zahlen und handfesten Diagnosen wirklich (und wenn ja, welchen Anteil daran hat unsere Gesellschaft?) oder ist das Socia Media Phänomen einfach überbewertet (und wenn ja, welchen Anteil daran hat unsere Gesellschaft?)?
Vielleicht ist das der Weg, den kulturhistorische Phänomene, die mal als Krankheit betrachtet werden und mal nicht, im Laufe der Zeit eben gehen müssen?
Ich bin im Übrigen froh darüber, dass Manuale wie DSM oder ICD regelmäßig an den aktuellen Stand der Wissenschaft angepasst werden und nicht auf alle Zeiten im Erstentwurf verharren. Der SPIEGEL (ebd., S. 13) möchte mit dem Hinweis auf eine häufige Anpassung dieser Diagnostik-Manuale einerseits zeigen, wie schwer die Entwicklungsstörung ADHS zu fassen ist, unterstellt aber zugleich eine gewisse Willkür der Beschreibung und diagnostischen Kriterien. Ich hingegen unterstelle korrektes wissenschaftliches Vorgehen im Wandel der Zeit (obgleich ein zu langsames Vorgehen, denn das ICD-11 kommt trotz seines Inkrafttretens im Januar 2022 in der medizinischen Praxis noch immer nicht zur Anwendung).
Problematischer scheint mir, dass der Artikel ohne Hinweis darauf auskommt, dass ADHS bei Frauen subtiler auftreten kann und sie deshalb lange Zeit übersehen wurden. Diese Frauen stoßen oft erst im mittleren oder späten Alter auf die Möglichkeit, dass ADHS ihren bisherigen Lebens(ver)lauf und das damit verbundene ‚Scheitern‘ (so wird es oft empfunden) mitbestimmt hat. Warum kommen sie gerade jetzt drauf? Wegen des ‚Social Media Hypes‘. Sie begeben sich auf die Suche nach einer Diagnostik und die Fallzahlen steigen. So schließen sich Kreise.
Nicht einverstanden bin ich mit der SPIEGEL-These, ADHS füge sich in die „Theorie des Singulären“ (ebd., S. 12) nach Andreas Reckwitz erstaunlich gut ein. So sehr ich die Reckwitzsche Gesellschaftsdiagnose an sich schätze, so wenig betrachte ich ADHS oder Neurodiversität als einen Ausdruck hiervon. Als Betroffene und Soziologin behaupte ich: Die Motivation hinter dem ‚Sichöffentlichmachen‘ scheint mir, im Gegenteil, häufig gerade das Bedürfnis danach zu sein, endlich einmal nicht ‚anders‘, sondern in und mit einer sozialen Bewegung weniger singulär zu sein. Das schließt nicht aus, dass manche extrovertierte Creator:innen ihren Auftritt genießen und sich – ob aus Lust oder purer Zwangsläufigkeit – als individuelle Person präsentieren.
Nach Niklas Luhmann ist Krankheit übrigens keine objektiv gegebene Tatsache, sondern wird gesellschaftlich konstruiert. Diese Konstruktion hängt, wie andere auch, von den Normen und Erwartungen ab, die in gesellschaftlichen Funktionssystemen (hier: der Medizin) etabliert werden. Aktuell geltende gesellschaftliche Normen definieren also, was als normal und was als abweichend gilt. Die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit ist demzufolge nicht naturgegeben, sondern wird sozial konstruiert, entlang kultur- und zeitabhängiger Vorstellungen von Normalität.
In den Reaktionen auf die SPIEGEL-Titelstory zeigt sich wohl auch eine sensible Gesellschaft, wie sie Svenja Flaßpöhler (2021) beschrieben hat: „Sensibilität ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Im Kampf um Anerkennung unterdrückter Gruppen spielt sie eine wichtige Rolle. Aber sie kann auch vom Progressiven ins Regressive kippen.“ Damit möchte ich Flaßpöhlers These weder stützen noch ihr widersprechen. Ich meine nur: Ein wenig mehr Gelassenheit täte momentan nicht nur diesem, sondern vielen unserer gesellschaftlichen Diskurse gut.
Dem Titelthema ADHS hat der SPIEGEL zwei weitere Artikel gewidmet: Im ersten (Hackenbroch, S. 15-17) beschreiben Dr. Georg Ziegler (Universitätsklinikum Würzburg) und Dr. Daniel Schöttle (Asklepios Klinikum Harburg), wie sie ADHS diagnostizieren, warum Betroffene schneller in eine Überforderung geraten können und wie sich ADHS behandeln und damit leben lässt. Das ist erhellend und interessant zu lesen, selbst wenn man seine Diagnose bereits hat. Weil es eben keine spezifischen Biomarker im Blut zu finden gibt, braucht es während der Diagnostik vor allem eine intensive Beschäftigung mit dem Menschen in mehreren Terminen. Auch dass ADHS oft in dauerhaftem Stress mündet und herausfordernde Lebensereignissen wie die Geburt des Kindes, die Pflege der Eltern oder der Verlust eines geliebten Menschen schneller und tiefer in die Überforderung führen, sollte man wissen.
Als Dr. Ziegler von der Autorin des Artikels mit den Worten zitiert wird „der Korridor zwischen Langeweile und Überforderung […] sei bei ADHS schmaler“ (ebd., S. 16), was vor allem bei der Arbeit zum Problem werden kann, möchte ich meine Zustimmung am liebsten persönlich übermitteln (verzichte aber fürs Erste darauf, um mich nicht zu verzetteln). Wichtig ebenfalls: Menschen mit hoher Intelligenz oder viel sozialer Unterstützung „könnten ihre ADHS-Symptome zwar mitunter gut kompensieren […], aber auch sie hätten am Ende oft das Gefühl, unter ihren Möglichkeiten zu bleiben“ (ebd.). Ein Gefühl, das mich seit der weiterführenden Schulzeit begleitet. ADHS könne mitunter auch zu unglaublich komplizierten Lebensläufen führen, worunter einige Patienten sehr litten, weil sie eigentlich nur mal zur Ruhe kommen wollen. Auch das spricht mir aus der Seele.
Das was Dr. Ziegler „zur Ruhe kommen“ nennt, beschreibt Sascha Lobo in seinem Essay zum Thema als „eine Form von Action-Balance“ (Lobo, S. 18). Der Publizist, Autor und Podcaster (@saschalobo) erlebt seine ADHS als dauerhaftes Streben nach einer Balance aus ‚zu viel‘ und ‚zu wenig‘ (Input, Gefühl, Erleben). Dem Gehirn-Dopaminmangel mit neuen Erlebnissen und den damit verbundenen Gefühlen Abhilfe zu schaffen, dann aber wieder einen Mangel an Klarheit, Ruhe oder Leichtigkeit zu spüren – treffender hätte man die meinem Leben zugrunde liegende Struktur nicht beschreiben können. So etwas kostet Kraft und führt daher, s. o., häufig zu chronischem Stress und Erschöpfung.
Lobo ordnet das ADHS-Erleben in die Kontexte ‚Arbeit‘ und ‚vernetzte Gesellschaft‘ ein und trifft damit natürlich mein Steckenpferd. Denn eine Krankheit ist nur dann Krankheit, wenn die Umwelt um einen herum andere Erwartungen hat, man unter seinem Zustand leidet und gerade herrschende Normalitätsvorstellungen die Symptome als abweichend definieren (s. o.).
Dankenswerterweise geht Lobo auch auf seine Privilegien ein (Mannsein, bildungsbürgerliches Umfeld, wirtschaftliche Unabhängigkeit) und darauf, dass Frauen bei der Erforschung und Symptomerkennung von Krankheiten oft nicht ausreichend berücksichtigt werden (man nennt das den Gender Health Gap). Alles in Allem hat Lobo einen Umgang mit seiner Erwachsenen-ADHS gefunden: Er betrachtet sie als ein „Set von Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die sowohl mit schwierigen Seiten als auch sehr positiven Effekten verbunden sind“ (S. 19) und geht den negativen Symptomen (z. B. Unaufmerksamkeit) auf den Grund, um daraus positive Abwandlungen (z. B. Assoziationsvermögen)zu ziehen .
Alles in Allem gehen die drei Artikel des SPIEGEL zum Titelthema ADHS aus meiner Sicht völlig in Ordnung. Die Artikel von Hackenbroch und Lobo sind darüber hinaus durchaus bereichernd, auch dann, wenn man sich mit ADHS bereits auskennt. Lasst mich diese Replik mit einem nochmaligen Zitat von Sascha Lobo abschließen:
„Es ist eine ständige, nie aufhörende Herausforderung, aber es ist meine Herausforderung, und ich habe sie lieben gelernt.“
Literatur
Bernard, A. & Padtberg, C. (2025): Abgelenkt und trotzdem da, in: DER SPIEGEL, 03/2025, S. 8-14.
Flaßpöhler, S. (2021): Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.
Hackenbroch, V. (2025): Das geht dann bling, bling, bling, in: DER SPIEGEL, 03/2025,S. 15-17.
Jahraus, O.; Nassehi, A.; Grizelj, M.; Saake, I.; Kirchmeier, C. & Müller, J. (2012): Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler.
Lobo, S. (2025): Es ist kein Fehler, es ist eine Fähigkeit, in: DER SPIEGEL, 03/2025, S. 18-19.
Luhmann, N. (2019): Schriften zur Organisation 2. Theorie organisierter Sozialsysteme. Wiesbaden: Springer VS.